Das Geheimnis der alten Schule



DER HAUSMEISTER

 

Peng!

War die andere Tür jetzt etwa auch zu? Ellen rannte durch das Schulgebäude. Atemlos kam sie an die große Flügeltür. Sie rüttelte daran – zu spät. Herr Menzler hatte sie schon abgeschlossen.

Ellen musste ihn suchen, es blieb ihr nichts anderes übrig, auch wenn es sicher kein Vergnügen war.

Einen grässlicheren Hausmeister konnte man sich kaum vorstellen. Er war uralt, lief krumm und war immer schlecht gelaunt. Es schien ihm Spaß zu machen, Kinder zu ärgern. Ellen fürchtete sich ein wenig vor ihm. Er würde sicher ganz furchtbar fluchen, weil er nun noch einmal die Tür aufschließen musste.

Aber egal, sie musste schließlich irgendwie hier raus, und es gab nur diese beiden Türen.

 

Schuld an dem Dilemma war nur die blöde Laura.

Ellen hatte sich zur Hofpause die Jacke angezogen, als Laura sie anrempelte und ihr mit Absicht auf die Schuhe trat. 

„Pass doch auf!“, hatte Ellen gerufen.

„Oh, bin ich auf deine neuen Designerstiefel getreten? Verzeih!“

Die anderen Mädchen um Laura herum hatten alle gekichert, als wäre das der tollste Witz.

Ellens Stiefel waren nicht wirklich neu. Ihre große Schwester hatte sie schon getragen

„Die Stiefel sind schön warm, bessere gibt es nicht zu kaufen“, hatte Mama gesagt, und sie ihr hingestellt.

Es stimmte, die Stiefel waren warm und bequem. Aber eben nicht modern.

Laura trug immer die neueste Mode, und gab damit furchtbar an. Die anderen Mädchen beeindruckte das, und sie klebten an ihr wie Kletten.

Ellen fand Laura langweilig. Die redete ständig nur über Mode, und was man unbedingt haben musste.

Aber weil Ellen sie nicht bewunderte, vielen Laura ständig irgendwelche kleinen Gemeinheiten ein.

Vorhin hatte sie nach dem Sportunterricht einfach Ellens Deo aus der Tasche genommen und damit im Umkleideraum herumgesprüht. Danach hatte sie sich die Nase zugehalten:

„Igitt, das stinkt ja eklig!“

Natürlich hatten alle gekichert. Dabei besaß Nathalie genau das gleiche Deo. Die dumme Kuh hatte trotzdem mitgekichert.

Als die Schule nach der achten Stunde endlich vorbei war, wollte Ellen schnell nach Hause. Sie ging in Richtung Ausgang, aber schon von weitem sah sie Laura mit ihren Freundinnen im Vorraum stehen. Sie schienen auf etwas zu warten. Bestimmt auf sie, für einen neuen Scherz? Oh nein, den Gefallen tat sie ihnen nicht!

Ellen drehte schnell um und lief durch das gesamte Schulgebäude zur anderen Tür. Aber als sie in der großen Pausenhalle ankam rutschte ihr das Herz in die Hose. Vor der Flügeltür standen vier Jungen aus der Achten, und einer davon war Mario.

Mario war der coolste Junge der Schule, schulterlange dunkelbraune Haare und die schönsten braunen Augen der Welt. Ellen war schon wochenlang in ihn verliebt. Sie hatte allerdings noch nie ein Wort mit ihm geredet.

Ein einziges Mal, im Schulbus, hatte sich ihre Blicke gekreuzt. Er hatte sie ein klein wenig länger angeschaut, als es normal war. Ellen war ganz heiß geworden. Sie hatte sich weggedreht, damit Mario nicht ihren knallroten Kopf sehen konnte.

Aber heute fühlte sie sich besonders unansehnlich. Die Haare hätte sie gestern wenigstens waschen können, und die schwarze lange Jacke anziehen. Mit diesem Anorak sah sie ja aus wie zehn. Nein, so konnte sie nicht an Mario vorbei.

Sie blieb hinter einer Säule stehen, aber die Jungs gingen einfach nicht hinaus.

Also lief Ellen wieder zurück zum anderen Eingang. Als sie dort ankam war alles still und leer. Sie ging zur Tür und klinkte. Die Tür war zu. Der Hausmeister hatte schon zugeschlossen.

Ellen drehte wieder um. Nachdem sie ungefähr in der Mitte des riesigen Schulgebäudes war, hörte sie, wie die große Tür zuschlagen wurde. Und natürlich – der Hausmeister hatte auch hier schon abgeschlossen. Heute war ja auch Mittwoch,  da wurden nur die Flure geputzt, und das während der letzten Unterrichtsstunde. Dann verließen alle das Schulgebäude und es wurde geschlossen, damit kein Unbefugter hinein kam.

 

Deshalb machte sich Ellen jetzt auf die Suche nach dem Hausmeister. Er hatte seine Wohnung im Schulgebäude, in der untersten Etage. Dort würde sie ihn sicher finden. Eigentlich konnte sie froh sein, das er hier wohnte. Sonst wäre sie jetzt ganz allein in dem alten Gemäuer.

Ellen lief die Treppen hinunter und den langen Flur entlang. Ihre Schritte hallten durch die leere Schule.

Sie bog um die Ecke zur Hausmeisterwohnung. Genau in dem Moment kam Herr Menzler von der anderen Seite um die Ecke. Er sah sie jedoch nicht, denn er ging rückwärts und zerrte eine große blaue Mülltüte hinter sich her. Dabei schimpfte er laut vor sich hin:

„Verflucht ist das schwer. Das wird noch reißen! Verdammte Sauerei!“

Ellen hielt den Atem an. Was steckte in dieser großen Tüte?

Sie hatte einmal einen Film gesehen, in dem jemand einen Mord beging und die Leiche danach genau in so eine Tüte steckte.

Eigentlich hasste Ellen so spannende Filme. Sie hatte ihn letztes Jahr an einem verregneten Ferientag gesehen. Ihre große Schwester wollte den Film unbedingt gucken, und hatte sie geärgert. „Na Baby, das ist wohl noch nichts für dich? Da machst du dir bestimmt in die Hose!“

Natürlich hatte Ellen den Film mit gesehen und die Nächte danach schlecht geträumt.

 

Auf Zehenspitzen ging sie rückwärts, und lugte dann vorsichtig um die Ecke. Sicher war sie nur etwas überängstlich wegen dem blöden Krimi.

Herr Menzler zog die Tüte hinter sich in die Wohnung. Unten war sie etwas aufgerissen und aus dem Riss rutschte etwas. Ellen sah genauer hin –  es war die Spitze eines Turnschuhes.

Ihr Herz begann zu rasen und ihr wurde ganz schlecht – das konnte nur eines bedeuten – in dem Sack steckte wirklich ein Mensch.

Sie drückte sie sich an die Wand. Offensichtlich hatte Herr Menzler sie nicht wahrgenommen, denn er fluchte weiter vor sich hin, bis er die Wohnungstür hinter sich schloss.

Er war etwas schwerhörig, das war Ellens Glück, sonst hätte er vorhin sicher ihre hallenden Schritte gehört.

Jetzt musste sie ganz ruhig bleiben, nur keine Panik. Am Besten, sie ging erstmal auf die andere Seite der Schule. Dort würde sie  durch ein Fenster nach draußen klettern und dann die Polizei anrufen.

Obwohl Ellen sich ziemlich sicher war, das der Hausmeister sie nicht hören konnte, zog sie die Schuhe aus und rannte in Socken durch den Flur. Sie klinkte an den Türen der Klassenräume – alle waren verschlossen. Zum Glück war die Toilette offen. Aber mit Entsetzen sah sie, das hier alle Fenster vergittert waren. Sie öffnete ein Fenster und rüttelte an dem Gitter. Es war alt und rostig, vielleicht würde es nachgeben. Doch der Rost trog, das Gitter war stabil. Es war wie in einem Gefängnis.

Im nächsten Geschoss gab es keine Gitter. Aber als Ellen nach unten schaute, wurde ihr ganz schwindlig. Es war ein altes Schulgebäude mit hohen Räumen. Das Zweite Geschoss war mindestens fünf Meter hoch. Einen Sprung aus diesem Fenster würde sie vielleicht nicht überleben.

Ellen holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Sie musste doch einfach nur von hier aus die Polizei informieren. Die würden sie dann befreien, und den Hausmeister festnehmen.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und tippte mit klopfendem Herzen die Rufnummer der Polizei.

Doch es machte nur ein einziges Mal piep, dann verlosch das Licht – Akku leer.

Jetzt überliefen Ellen heiße Schauer der Panik. Sie schüttelte ihr Handy und versuchte es erneut. Sie rieb es mit den Händen, irgendwoher hatte sie mal gehört, dass man durch die Reibungsenergie Strom erzeugen könnte. Doch das Handy blieb aus. Kein einziger Piep mehr.

 

Es war Herbst, draußen wurde es langsam dunkel.

Es blieb ihr nichts weiter übrig, als irgendwo ein Schlupfloch nach draußen zu finden. Hier oben konnte sie nicht hinaus. Sie hatte keine Lust sich das Genick zu brechen.

Also ging sie wieder nach unten. Sie suchte die Fenster im Flur, die sich möglichst weit weg von der Hausmeisterwohnung befanden. Aber auch die hatten alle die gleichen stabilen Gitter.

Inzwischen war es fast finster.

Ellen stand jetzt an der Tür die in den Keller führte. Sie klinkte – die Tür gab nach. Sie musste es versuchen, vielleicht gab es dort einen Ausweg. An ihrer Uhr war ein Knopf für Licht. Mit Hilfe dieser winzigen Funzel tappte Ellen die Treppe herunter. Sie hatte noch immer die schwere Schultasche auf dem Rücken.

Der Keller war ein altes gemauertes Gewölbe. Es gab winzige Fenster ungefähr zwei Meter über dem Boden.  Ausrangierte Tische und Stühle standen herum. Ellen musste sich vorsehen, um nicht zu stolpern. Sie nahm sich einen Stuhl, und versuchte, eines der Fenster zu öffnen, aber die Fenster waren so winzig, das gerade ein Kaninchen hindurch passen würde. Außerdem waren natürlich auch hier Gitter davor.

Jetzt war sie wirklich verzweifelt. Sicher würden Ihre Eltern sie schon vermissen.

 

Plötzlich hörte sie über sich schlürfende Schritte. Der Hausmeister musste seine Wohnung wieder verlassen haben. Ellen hielt die Luft an. Die Schritte kamen näher.

Oh nein, er war auf dem Weg zum Keller. Panisch sah sie sich um. Die Funzel an ihrer Uhr war jedoch zu schwach um genug zu erkennen. Wo sollte sie sich nur verstecken. Jetzt waren die Schritte gleich bei der Tür. Vielleicht hatte er sie doch bemerkt und suchte jetzt nach ihr. Ellen drückte sich fest an die Wand. Da spürte sie im Rücken eine Klinke.

Oben öffnete sich die Kellertür. Ellen tastete zitternd nach der Türklinke und drückte sie vorsichtig herunter.

Genau in dem Moment ging im Keller das Licht an und Herr Menzler stieg langsam die Treppe herunter.

Unten sah er sich suchend um. Sein Blick tastete über die unordentlich übereinander gestapelten Tische und Stühle.

Zum Glück wurde Ellen von diesem Durcheinander verdeckt.  Der Hausmeister begann Stühle von den Tischen zu stapeln. Den Krach, den er dabei machte nutzte sie aus. Sie drückte gegen die Tür und die gab, mit einem leisen Quietschen nach. Ellen schlüpfte in den Raum dahinter. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie durch den Türspalt, wie Herr Menzler mit einem Stuhl unter dem Arm die Treppe wieder nach oben ging.

Offensichtlich hatte er sie nicht gehört.

Ellen atmete erleichtert auf. Solch eine Angst hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht verspürt.

Aber was sollte sie jetzt machen?

Es gab nur eine Möglichkeit. Sie musste sich bis zum nächsten Morgen hier unten verstecken. Bei Schulbeginn würde sie dann unbemerkt nach oben huschen und die Polizei informieren.

Ellen leuchtete den Raum aus. Er war sehr klein, hatte unverputzte Mauersteine an den Wänden und einen steinernem Fußboden. Überall hingen Spinnenweben, ansonsten war er leer. Hier hatte schon ewig keiner mehr sauber gemacht. Zum Glück hatte sie nichts gegen Spinnen. Sie mochte sie eigentlich ganz gern, und ließ sie sogar zu Hause in ihrem Zimmer wohnen.

Mit den Händen schob sie die Weben beiseite und suchte mit ihrer Funzel die Decke nach einer Lampe ab – es gab keine Lampe. Nur ein Fenster, so groß wie eine Postkarte.

Ein Schauer schüttelte sie. Ob vor Kälte oder Angst wusste Ellen nicht, aber sie wollte diesen Raum auf keinen Fall vor dem nächsten Morgen verlassen. Hier hinein würde Herr Menzler bestimmt nicht kommen.

Ellen schaute auf die Uhr. Es war gleich halb sechs. Sie war also schon fast zwei Stunden in der Schule eingeschlossen.

Sie legte ihre Schultasche auf die Erde, genau hinter die Tür und setzte sich darauf. Sollte der Hausmeister tatsächlich hier hinein kommen, wäre sie erstmal von der Tür verdeckt. Zur Not könnte sie ihn immer noch mit einem schweren Buch betäuben und wegrennen. Sie zog das größte Buch aus ihrer Tasche, setzte sich wieder hin und legte es auf den Schoß.

Ein wenig beruhigt lehnte sie sich an die Wand. Die Wand war kalt und hart. Ellen holte ihre Sportsachen heraus und polsterte sich damit den Rücken. So würde es gehen. Sie würde hier einfach bis morgen früh warten.

 

Sie saß da und kuschelte sich in ihre Jacke. Es  war ziemlich kühl und roch etwas modrig, ein bisschen wie in Omas altem Kohlenkeller. Ellen lauschte auf Geräusche, aber es war ganz still. Nur ab und zu wurde die Stille durch ein leises Rascheln unterbrochen. Sicher waren hier unten irgendwo Mäuse.

Sie hatte keine Angst vor diesen kleinen possierlichen Tierchen, aber der Gedanke, dass sie vielleicht anfingen an ihren Sachen zu knabbern, gefiel ihr gar nicht. Also leuchtete sie noch einmal mit der Uhr. Das Licht glimmte nur noch leicht.

Eine Maus sah sie nicht, dafür entdeckte sie aber eigenartige Striche an der Wand. Sie ging mit dem Licht ganz nah heran. Es waren Striche, wie man sie zum zählen macht, vier gerade, der fünfte schräg. Überall auf den Steinen gab es solche Striche. Und da waren auch Zahlen und Buchstaben. Sie versuchte mehr zu erkennen, aber jetzt wurde auch noch ihr Uhrenlicht schwach. Sie machte es schnell aus. Das fehlte noch, dass sie nicht mal mehr die Uhrzeit erkennen könnte.

Ellen schloss die Augen und versuchte das Rascheln zu ignorieren.

Sie konnte weder etwas lesen, noch malen um sich die Zeit zu vertreiben. Noch nicht einmal die Hausaufgaben für morgen konnte sie erledigen.

Einschlafen wollte sie auch auf keinen Fall. Was, wenn es sich Herr Menzler doch noch überlegte, und in den Kellerraum kam?

Nach einer Weile schaute sie noch einmal auf die Uhr. Es waren erst 10 Minuten vergangen. Wie sollte sie dass Warten bis Morgen früh aushalten, wenn die Zeit so dahin schlich?

Also begann sie im Kopf zu Rechnen. Eigentlich mochte sie Mathe überhaupt nicht. Herr Retzlaf – ihr Mathelehrer – sagte immer: „Ellen, du musst Kopfrechnen üben, du bist viel zu langsam. Wenn dir mal langweilig ist, dann mach einfach ein paar Übungen.“

So langweilig war ihr bisher wirklich nie gewesen. Aber jetzt hatte sie über 12 Stunden Zeit. Wahrscheinlich würde sie morgen früh ein Mathegenie sein.

So rechnete sie vor sich hin. Gott, war das öde, aber es lenkte wirklich von dem blöden Rascheln ab. Das dumme war, woher wusste sie denn, das sie richtig rechnete? Egal. Fünfhundertsiebenundachtzig minus Zweihundertvierzig. Ellen zog die Stirn kraus und nahm die Finger zur Hilfe. Dreihundertsiebenundvierzig. Richtig?

Dann viel ihr wieder die große Plastiktüte mit dem Schuh ein. Ein Druck breitete sich in ihrem Magen aus. Nein, sie musste sich weiter ablenken. Panik war jetzt genau das Falsche. Also weiterrechnen.

Aber nach einer Weile schweiften ihre Gedanken wieder ab.

Was hatten die Striche und Zahlen an der Wand zu bedeuten? Vielleicht waren das auch Rechnungen. Vielleicht haben hier unten schon öfter Kinder versteckt. Aber warum?

Und was, wenn der Hausmeister sie nun doch fände? Keiner würde je erfahren, was geschehen war. Er könnte sie einfach verschwinden lassen. Ellen tastete mit den Fingern über die Erde und fand einen kleinen Stein. Sie machte das Uhrenlicht an und begann mit dem Stein in die Wand zu ritzen: 25. 11. 2009 E… weiter kam sie nicht, denn das Licht verlosch. Sie kratzte im Dunklen ihren Namen weiter.

Da war es ihr auf einmal klar – die vielen Zahlen an der Wand, das waren Datumszahlen! Bestimmt standen auch irgendwo Namen. Sie wollte noch einmal nachsehen, aber das Licht blieb aus.

Wieder saß sie still an die Wand gelehnt. An Rechnen war nicht mehr zu denken. Alles in Ihrem Kopf drehte sich um die Zahlen und Striche.

 

Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen und vor sich hingestarrt hatte, als an der Wand gegenüber plötzlich ein schmaler Lichtstreif erschien. Ellen rieb sich die Augen. Der Streif wurde immer größer und das Licht blendete sie. Die Wand schob sich tatsächlich langsam auseinander. Magisch von dem Licht angezogen stand Ellen auf und ging darauf zu. Der Spalt war jetzt so breit wie eine Türöffnung und Ellen trat hindurch.

 

 

DAS WILDE LAND

 

Helles Sonnenlicht umfing sie, und sie stand auf einer großen Wiese. Wenige Meter von ihr entfernt schnaubte ein Pferd. Es war eins von den Pferden die Ellen so gern mochte, stämmig mit weichem hellbraunen Fell und dicker Mähne. Es kam genau auf sie zu, blieb vor ihr stehen und senkte den Kopf.

Ellen strich ihm durch die weiche Mähne. Das Pferd schnaufte leise, rieb seinen Kopf an ihrer Schulter und stupste sie dann ganz leicht mit seinen weichen Nüstern, so, als wolle es sagen ‚Nun steig schon auf!’

Da packte Ellen fest in die Mähne und schwang sich auf seinen Rücken.

Das ging leichter, als sie erwartet hatte. Das Pferdchen hob den Kopf, schnaubte freundlich und trabte gemächlich über die Wiese.

Sie war sicher nicht die Erste, die auf ihm ritt, auch wenn es keinen Sattel und kein Zaumzeug trug, es war Reiter gewöhnt.

Das Pferd schien ein bestimmtes Ziel zu haben, denn es scherte sich nicht um Ellens Versuche, die Richtung vorzugeben.

Also ließ sie sich einfach von ihm tragen, wohin war ja egal, da sie sowieso keine Ahnung hatte, wo sie war.

Trotzdem fühlte Ellen sich glücklich. Die Sonne schien warm und überall summten Bienchen. Jetzt trabte das Pferdchen durch einen sonnendurchfluteten Wald. Es stapfte über weiches Moos und sprang über kleine glucksende Bächlein. Wenn es nach Ellen ging, konnte sie ewig so weiter reiten. Doch plötzlich blieb das Pferdchen stehen.

„Bärli, wen bringst du denn da?“, klang eine laute Stimme an ihr Ohr, und plötzlich war sie umringt von einer Horde Jungs.

Ellen sah sich unsicher um und stieg von Bärlis Rücken.

„Er wollte, dass ich aufsteige“, sagte sie entschuldigend.

Zehn Jungs im Alter von zirka acht bis vierzehn Jahren standen um sie herum und starrten sie neugierig an.

„Das is ja ’n Mädchen“, rief ein kleiner blonder Strubbelkopf.

„Wo kommst du her“, fragte der größte Junge.

Ellen wollte die Frage beantworten, aber ihr viel nichts ein. Wo kam sie her? Sie versuchte sich zu erinnern. Was war geschehen? Wie war sie auf die Wiese zu dem Pferd gekommen, und wo war sie vorher gewesen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte sie leise.

„Ist doch egal, wir wissen ja auch nicht wo wir herkommen, oder Klaus?“, rief der Kleine blonde und schaute den Großen dabei an.“

„Aber das hier ist unser Land!“, antwortete ein anderer Junge, der etwas abseits gestanden hatte. Als er näher kam, bemerkte Ellen, dass er ein wenig hinkte.

Der Große schüttelte den Kopf und sagte:

„Nein, das stimmt nicht, es ist nicht nur unser Land Eddy. Es gehört jedem, der hierher kommt und bleiben will.

Dann wandte er sich wieder Ellen zu.

„Also, möchtest du hierbleiben, Mädchen?“

„Ich glaube schon“, antwortete Ellen. „Obwohl ich gar nicht genau weiß wo ich bin?“

„Du bist im Wilden Land“, plapperte der Kleine dazwischen. „Du bist das erste Mädchen, das her gefunden hat.“

Der Große Junge sah Ellen an.

„Max hat Recht, du bist das erste Mädchen hier. Aber das ist egal, jeder der kommt, darf auch bei uns bleiben.

Ich heiße übrigens Klaus, und der Frechdachs da ist Max. Das ist Eddy, und dort sind Michael, Fritz, Herbert, Fred, Konrad und Emil.“

„Ich heiße Ellen“, antwortete Ellen, und war froh, dass ihr wenigstens noch ihr Name einfiel.

„Wenn du bleibst, brauchst du ein Haus“, sagte Max und hüpfte aufgeregt als wäre das das größte Abenteuer.

„Woher bekomme ich denn ein Haus?“, fragte Ellen, die weit und breit nur Bäume, Büsche und Gras sah.

„Das musst du dir bauen!“, sagte Eddy mürrisch. Er schien sich nicht sehr über ihre Ankunft zu freuen.

Klaus sah sie an. „Keine Angst, du musst es nicht allein bauen, wie helfen alle mit.“

„Wir bauen ein Haus“, riefen die Jungs und rannten los.

„Komm mit“, sagte Max und zog an Ellens Hand. Sie folgte ihm. Sie rannten eine Weile über Stöcke und Wurzeln und kamen dann an eine Lichtung. Nein, es war keine richtige Lichtung, hier war der Sturm durch die Bäume gefegt und hatte viele umgeworfen. Ein ganzes Stück Wald lag am Boden.

„Hier holen wir das Holz her für dein Haus“, erklärte ihr Max.

Klaus turnte über die umgestürzten Bäume und suchte nach passendem Baumaterial. Er zeigte auf einen Stamm und die fünf kräftigsten Jungs zogen an ihm. Sie hatten offensichtlich Spaß daran ihre Kräfte zu zeigen. Lautstark brüllten sie: „Hau ruck, hau ruck“, und legten den Stamm frei.

Hinter Ellen schnaubte es leise. Bärli war mitgekommen. Das Pferd stand da und wartete. Klaus befestigte den Stamm mit einem langen Lederriemen an dem Pferd und gab ihm einen leichten Klaps auf das Hinterteil. Langsam machte es sich auf den Weg und zog den Stamm hinter sich her.

„Eddy, geh mit Bärli zurück und such einen passenden Baum.“

Eddy hatte etwas abseits gestanden. Die anderen Jungs hatten inzwischen einen zweiten Baumstamm gefunden an dem sie zogen.

Er schlurfte, mit seinem hinkenden Gang, dem Pferd hinterher.

„Er mag mich nicht“, flüsterte Ellen.

Klaus, der neben ihr stand, hatte es gehört.

„Er mag niemanden, der neu angekommen ist. Das gibt sich bald. Er hat Angst, du könntest ihn auslachen, weil er hinkt. Aber hier lacht niemand über den anderen.

Weißt du, wir können uns alle nicht mehr erinnern, woher wir kamen. Wir waren plötzlich hier, genau wie du. Aber manchmal dringen Erinnerungen aus früheren Zeiten hindurch. Und für Eddy sind sie wohl nicht sehr angenehm. Wahrscheinlich ist er wegen seinem verkrüppelten Fuß geärgert worden. Das vergisst man nicht so schnell“

„Das kann ich verstehen“, sagte Ellen.

Auch sie hatte verschwommene Erinnerungen. Vor allem wenn Klaus sie ansah. Dann kribbelte es in ihrem Bauch, und sie glaubte, dass sie ihn vorher schon irgendwo einmal gesehen hatte. Klaus gefiel ihr gut. Er war der größte der Jungs, und sicher auch der älteste. Er hatte dunkelbraune Haare und schöne braune Augen. Sie musste aufpassen, dass sie ihn nicht anstarrte.

„Bist du hier eigentlich der Anführer?“, fragte sie ihn.

„Es gibt hier keinen Anführer. Jeder kann tun und sagen was er will. Wir leben hier ziemlich friedlich zusammen. Aber wenn es ums Häuser bauen geht, das kann ich ziemlich gut, darum sag ich gerade, was gemacht wird.“

Die Jungs zogen den dritten Stamm heraus.

„Ich denke, das reicht“ rief ihnen Klaus zu.

Eddy kam gerade mit wieder Bärli zurück.

Der nächste Stamm wurde an das Pferdchen gebunden. Den dritten zogen alle Jungs gemeinsam hinter sich her. Alle außer Eddy. Der lief neben Bärli, und Ellen ging neben ihm. Sie durfte nicht beim Baumstamm ziehen helfen.

„Neun Jungs sind dafür genug“, meinte Klaus..

„Wie lange lebst du schon hier“, begann Ellen ein Gespräch mit Eddy, um die unangenehme Spannung zu brechen.

„Keine Ahnung“, antwortete er nur. Offensichtlich passte es ihm nicht, dass sie mit ihm reden wollte, also versuchte sie es nicht noch einmal.

Nach ein paar Minuten kam Max angehüpft.

„Ich glaub, die schaffen den Stamm auch ohne mich“, sagte er und balancierte neben Ellen über einen umgestürzten Baum.

Ellen war froh, einen Gesprächspartner zu haben.

Plötzlich sprang vor ihnen ein Reh aus dem Gestrüpp, und sie zuckte zusammen. Max lachte.

„Du brauchst keine Angst haben, hier ist es nicht gefährlich. Hier gibt’s nur Rehe, Hasen und so Tiere. Aber drüben im Dschungel musst du aufpassen!“

„Hier gibt es einen Dschungel?“, fragte Ellen erstaunt.

„Ja, klar. Da holen wir immer die leckeren Brotfrüchte her. Ich weiß, wo die größten und süßesten wachsen. Wenn du willst, zeig ich dir die Stelle.“

„Das ist sehr lieb von dir. Aber du hast gesagt es ist gefährlich, hast du denn keine Angst?“

„Nein, ich bin doch bewaffnet.“,

Er holte einen Katapult aus seiner Tasche und sagte stolz:

„Damit hab ich schon den Tiger verjagt.“

„Wir sind da, das wird dein Baum“, sagte Eddy, und zeigte auf eine hohe dicke Buche.

„Mein Baum?“ fragte Ellen, die nicht wusste, was Eddy meinte.


 

BAUMHÄUSER

 

„Was, gefällt er dir nicht? Wo willst du denn dein Haus bauen?“, fragte Eddy und schaute etwas säuerlich.

„Der Baum ist Spitze Ellen!“ rief Max und tanzte darum herum. „Eddy hat dir den schönsten freien Baum gesucht. Sieh nur, was für dicke Äste er hat. Darin kannst du einen richtigen Palast bauen.“

Jetzt schaute Ellen nach oben und sah, dass überall Holzhütten in die Kronen gebaut waren.

„Dort ist mein Haus“, sagte Max, und zeigte auf einen alten Eichenbaum.

Ellen sah Eddy an, der noch immer neben Bärli stand und auf eine Antwort von ihr wartete.

„Ich wusste nicht, dass ihr in Baumhäusern wohnt. Der Baum ist toll, vielen Dank“, sagte sie und lächelte ihn freundlich an.

„Hab ihn ja nicht gemacht, nur ausgesucht“, murmelte Eddy und ging zu den anderen Jungs, die jetzt die Baumstämme ablegten.

Klaus kam herüber, tätschelte das Pferdchen und sagte:

„Na, hast du schon versucht, nach oben zu klettern?“

Ellen schüttelte den Kopf. Sie konnte sich zwar nicht erinnern, aber sie war sicher schon lange nicht mehr auf einen Baum geklettert.

„Wie habt ihr denn dort oben bauen können?“

„Na, mit dem richtigen Werkzeug, ich  hab alles da“, antwortete Klaus. „Hammer, Säge, Nägel und einen Flaschenzug, um alles hoch zu ziehen. Das mit dem Flaschenzug war Eddys Idee. Vorher hatten wir nur ein einfaches Seil, das war eine echte Plackerei. Aber mit dem Flaschenzug schafft es sogar Max.“

„Ich hol das Werkzeug“, rief einer der Jungs und rannte los. Ellen sah ihm nach. Er sprang über ein Bächlein und begann geschickt wie ein Äffchen an einem nicht weit entfernten Baum hinauf zu klettern. Es war der dickste Baum in der Umgebung, wahrscheinlich der dickste im ganzen Wald, und auf seinen mächtigen Ästen thronte ein riesiges Baumhaus. Es nahm die gesamte Krone des Baumes ein und war mindestens sechs Meter breit.

„Wem gehört dieses Haus“, fragte das Mädchen staunend.

„Das ist unser Gemeinschaftshaus, es gehört allen“, antwortete Klaus.

Er ging zu dem Baum, Ellen folgte ihm. Der Junge, der eben hinauf geklettert war, ließ an einem langen Seil eine Kiste hinunter.

Klaus nahm die Kiste entgegen und öffnete sie.

„Hier, hast du auch eine“, sagte er, und drückte Ellen eine Säge in die Hand. Dann gingen sie zu den Baumstämmen zurück. Klaus zeigte Ellen, wie sie den Stamm zersägen sollte, die anderen Jungs hatten schon zu sägen begonnen.

Ellen hatte keine Übung, und nur langsam grub sich das Sägeblatt in das Holz. Die Jungen waren deutlich schneller, und schon bald waren die ersten Bretter fertig.

Der erste Stapel kann nach oben, rief Max.

Sie trugen die Bretter unter Ellens Baum und Klaus band sie zusammen. Dann kletterte er mit dem Flaschenzug den Baum hinauf. Der Flaschenzug bestand nur aus einer Holzrolle und einem dicken Seil. Er hatte das Seil über die Schulter gehängt und die Rolle an seinem Gürtel befestigt. Oben band Klaus die Rolle an einem dicken Ast und hängte das Seil darüber. Es reichte mit beiden Enden auf die Erde. An das eine Ende banden die Jungs den Holzstapel. Am anderen Ende zogen sie das Holz nach oben.

„Willst du auch mal? Ist ganz leicht!“, sagte Max

Ellen nahm das Seil. Obwohl sie den Stapel nie hätte heben können, konnte sie ihn ganz allein an dem Seil nach oben ziehen.

„Stopp!“, rief Klaus. Zwei Jungs waren ebenfalls auf den Baum geklettert. Gemeinsam hievten sie das Holz auf eine Astgabel.

 „Für heute reicht es“, rief Klaus und kletterte hinunter...