Die Traumreise



TIM 

Tim ist ein schmaler zurückhaltender Junge mit dunkelblonden Strubbelhaaren und einem Schuss zuviel Phantasie. Das sagen jedenfalls seine Lehrerin, sein Opa und manchmal sogar seine Mutter.

Mit Fußballspielen hat er nicht viel im Sinn. Aus seiner Klasse spielen fast alle Jungs Fußball. Tim läuft aber lieber durch den Wald und beobachtet Eichhörnchen oder Vögel. Er hat sogar schon mal ein Reh gesehen, und einmal hat es ziemlich laut geraschelt, das waren sicher Wildschweine. Da ist er ganz schnell nach Hause gelaufen. Außerdem ist Tim sich sicher, dass im Wald Elfen wohnen. Sein Opa sagt zwar, das ist nur der Nebel, aber er hat eben überhaupt keine Fantasie.

Bei schlechtem Wetter kann Tim stundenlang auf dem Fußboden sitzen und mit seinen kleinen Figuren  spielen. Er hat viele verschiedene Tiere, ein paar Ritter und Räuber, einen großen Haufen  Dinosaurier und zwei Drachen. Mit diesen Figuren denkt er sich tolle Geschichten aus, in denen fast immer sein roter oder grüner Drache die Hauptrolle spielt.

Seitdem er einmal im Unterricht von den Elfen im Wald erzählt hat, nennen ihn die Jungs aus seiner Klasse Spinner. Doch das stört ihn nicht, jedenfalls nicht, solange Melinda da ist.

Melinda sitzt in der Schule neben ihm. In der Pause spielt er oft mit ihr. Bei Melinda hat er das Gefühl, das sie ihn versteht. Sie hört ihm zu und mag seine Geschichten.


Es war ein ganz normaler Tag, und niemals hätte Tim gedacht, dass ihm gerade heute etwas Ungewöhnliches widerfahren könnte.

Es fing auch nicht sehr viel versprechend an, denn als Frau Müller – seine Klassenlehrerin – nach der Hofpause, die Tafel aufklappte, stand dort: „Tim liebt Melinda!“, und lauter rosa Herzchen waren darum gemalt.

Ein Kichern ging durch die Klasse und Melinda bekam einen ganz roten Kopf. Tim sah es aus dem Augenwinkel. Sie direkt anzusehen wagte er nicht. Er wäre am liebsten unter den Tisch gerutscht und verschwunden.

Aber Frau Müller wischte, ohne einen Ton zu sagen, die Tafel und begann mit dem Unterricht. Da hörte das Kichern der Kinder auf.

Eigentlich hatte Tim Melinda heute fragen wollen, ob sie mit zur alten Grube kommt, aber jetzt wagte er es nicht mehr. Sicher würde sie nein sagen, das mit den Herzchen war einfach zu peinlich.

Also ging er am Nachmittag allein dort hin, so wie immer. Die Grube lag ein paar hundert Meter vom Dorf entfernt, mitten im Tannenwald. Vor langer Zeit war hier Erz abgebaut worden. Die rundum aufgeschütteten schwarzbraunen Berge waren spärlich mit Gräsern, krummen Birken und einigen Kiefern bewachsen. Überall lagen große Steine. Die Landschaft sah urtümlich und irgendwie unwirklich aus, wenn sie mitten im Wald vor einem auftauchte. In der Mitte des Geländes lag ein Teich, umwachsen von hohem Schilfgras. Er glitzerte blau in der Frühlingssonne. 

Dieser Ort war etwas Besonderes für Tim, denn vor fast einem Jahr war er in einem ganz außergewöhnlichen Traum vorgekommen.

In diesem Traum war ihm ein Drache erschienen, der seinem grünen Spielzeugdrachen sehr ähnlich sah, nur war er blau und viel größer. Tim war auf seinen Rücken geklettert und der  Drache flog mit ihm zur alten Grube. Dort war er gelandet und hatte ihm eine Geschichte erzählt.  

Er sprach mit tiefer ruhiger Stimme, so ähnlich wie Opa, wenn er ein Märchen vorlas. Seine Geschichte handelte von der Grube. Sie war vor vielen, vielen Jahren ein hoher Berg mit tiefen Höhlen. In diesen Höhlen brüteten die Drachen damals ihre Eier aus.

In der Mitte des Berges lag ein glasklarer Kratersee, an dem sich Elfen, Feen, und andere Fabelwesen trafen.

Während der Drache erzählte, sah Tim alles direkt vor Augen, die Berghöhlen mit den kleinen Drachen und Eiern, die tanzenden Elfen und den glitzernden See.

„Wieso seid ihr fort gegangen?“, hatte er gefragt.

„Die Menschen fanden Erz unter dem Fels, und begannen den Berg zu zerstören.

Wir fanden hier keinen Platz mehr, deshalb zogen wir an einen ruhigeren Ort.

„Wohin“, konnte Tim nicht mehr fragen, denn genau an dieser Stelle hatte ihn seine Mutter geweckt und er musste in die Schule.

Der Traum war jedoch lange Zeit in seinem Kopf herum geschwirrt.

 

 

DER STEIN

Seit diesem Tag war er schon unzählige Male bei der alten Grube gewesen. Unter dem losen Sand buddelte er mit einer kleinen Schaufel nach verborgenen Spuren. Er hatte schon viele versteinerte Drachenschuppen gefunden.

Als er sie einmal mit in die Schule brachte, lachten die Jungs ihn aus und meinten, das wären ganz gewöhnliche Steine. Aber Melinda hatte nicht gelacht, und sie ganz genau betrachtete.

Sein größter Wunsch war jedoch, ein echtes Drachenei zu finden. Um allein in die Welt zu ziehen, und nach den Drachen zu suchen, war er ja leider noch zu klein. Und ein bisschen fürchtete er sich auch davor. Aber so ein Ei auszubrüten war sicher nicht gefährlich. Der Drache wäre ja erst ganz klein, und würde sich an ihn gewöhnen, so ähnlich wie ein Hund. Und später könnte er auf ihm fliegen, genau wie in seinen Traum.

Die alte Grube war Tims Lieblingsplatz geworden. Nicht nur wegen der Drachen. Er war sich sicher, dass es hier auch noch Elfen gab. Einmal hatte er nämlich eine gesehen. Es war später Nachmittag gewesen, als sie über den Teich flog. Erst war es nur ein schwaches Glitzern, aber dann erkannte eine unglaublich zartes Geschöpf mit winzigen Flügelchen. Die Elfe war geflohen, als sie ihn sah. Sie war sicher zu früh erwacht, denn Elfen tanzen ja eigentlich nur im Mondlicht.

 

Heute saß Tim gedankenverloren auf einem Stein und schaufelte Sand von einer Seite zu anderen. Wie gern wäre er mit Melinda hierher gekommen. Diese blöden Schmierfinken, mussten sie gerade heute so einen Mist an die Tafel klieren. 

Wütend schleuderte er einen Stein fort. Er wollte gerade einen anderen mit seinem Fuß wegkicken, als er innehielt. Unter den Sand  schimmerte etwas.

Sein Herz klopfte schneller während sich seine Hand danach ausstreckte. Er zog einen eiförmigen glänzenden Stein hervor, etwas größer als ein Hühnerei.

„Ein Drachenei!“ flüsterte er.

 Er zog seine Jacke aus und wickelte es vorsichtig darin ein. Dann rannte er nach Hause.   

 

Außer Atem stand er vor der Haustür und drückte auf den Klingelknopf. Seine Mutter öffnete.

„Guck mal was ich habe!“ Stolz hielt Tim der Mutter das Ei entgegen.

Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf und sagte: „Komm erstmal rein und zieh dir die Schuhe aus“.

„Aber, das ist ein Drachenei“, sagte Tim empört.

„Ich sehe nur einen Stein. Hast du den wieder von der Grube? Mach dich erstmal sauber, du siehst aus wie ein Dreckspatz.“

Enttäuscht zog er die Schuhe von seinen Füßen und ging ins Bad. Seine Mutter erkannte nicht einmal ein Drachenei, wenn es vor ihr lag.

Vorsichtig wusch er es mit lauwarmem Wasser sauber. Es war wunderschön.

 

„Nimm das vom Tisch, das ist eklig“, zeterte seine Schwester, als das Ei beim Abendessen neben seinen Teller lag.

„Das ist ein Drachenei!“, antwortete er empört. „Ich muss darauf aufpassen.“

„Deine Schwester hat recht, ein alter Stein gehört nicht auf den Tisch!“ mischte sich jetzt auch noch sein Vater ein.

 

Wütend stampfte Tim aus der Küche. Die Mutter kam ihm hinterher. „Tim, du musst etwas essen, bitte setz dich wieder.“

„Ich hab keinen Hunger“, sagte er sauer.

„Es ist wegen dem Stein, nicht wahr?“

„Das ist kein Stein.“

„O.K., dann pack dein Drachenei in ein Tuch, damit es warm bleibt und leg es neben deinen Stuhl.“

Die Mutter gab ihm ein Handtuch aus dem Schrank und Tim legte das Ei ganz vorsichtig hinein. Neben seinem Stuhl konnte er es beobachten und dabei Abendbrot essen.

Nach dem Essen nahm er es mit ins Bad. Aus dem Badschrank holte er  etwas Watte und baute daraus ein weiches Nest.

Das Nest mit dem Ei legte Tim vor dem Schlafen neben sein Kopfkissen.

„Pass auf, dass dich der Drache nicht frisst, wenn er heute Nacht schlüpft“, ärgerte ihn seine Schwester Lilli. Tim machte einfach die Tür vor ihrer Nase zu und legte sich in sein Bett.

Er schlief sonst oft bei Lilli im Zimmer. Das war eigentlich ganz lustig, wenn sie nicht gerade schlechte Laune hatte. Man konnte mit ihr tolle Geschichte erfinden, oder sie krabbelte seinen Arm, bis er einschlief. Wenn er schlecht geträumt hatte, nahm er ihre Hand und hatte dann keine Angst mehr.

Aber heute wollte er seine Ruhe haben und allein sein. Außerdem hatte sie ihn viel zu doll geärgert.

Zart streichelte er die raue Oberfläche des Dracheneis und flüsterte leise: „Schlaf gut, und komm bald raus“. Dann fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Seine Hand blieb auf dem Nest liegen.

 

 

MAGELO

 

Ein stechender Schmerz in den Fingern ließ Tim mitten in der Nacht auffahren. Er saß im Bett, rieb sich die Augen und starrte auf das Ei. Es hatte angefangen zu leuchten. Vorsichtig fasste er es an.

„Au“, schnell zog er die Hand zurück. Es war kochendheiß. Ein bläuliches Licht drang durch die Schale und wurde immer stärker. Plötzlich bekam es einen Riss und der ganze Raum erstrahlte.  Tim kniff die Augen zusammen.

Einen Augenblick später zerbrach das Ei mit einem leisen „knack“ in zwei Hälften.

Das grelle Licht wurde schwächer und auf Tims Kopfkissen stand ein bläulich schimmernder kleiner Drache, der sich artig verbeugte. Der Junge sah den Drachen sprachlos an  und bemerkte erschrocken, wie dieser  unaufhörlich zu wachsen begann. Er wuchs so schnell wie ein Luftballon den man mit Gas füllt.

Tim sprang von seinem Bett, denn das füllte jetzt der Drache aus.

„Oh, Entschuldigung“, sagte der höflich,  flatterte mit seinen erstaunlich kleinen Flügeln und landete auf dem Fußboden, ohne jedoch mit dem Wachsen aufzuhören.

„Halt“, rief Tim, „Du wirst zu groß!“

Der Drache schaute erstaunt an sich herunter und nickte dann. Du hast Recht, so wird es reichen. Willst du mal Probe sitzen?“

„Wauu“, sagte Tim nach einer Weile. Ich hab ja gewusst, dass das Ei echt ist.“

„Natürlich hast du es gewusst, und das ist gut so. Die magischen Dracheneier in der Grube sind nämlich unsere letzte Verbindung zu den Menschen. Wir haben sie damals, als wir an einen sehr weit entfernten Ort zogen, zurück gelassen. Wenn ein Mensch die Eier erkennt und sich ganz fest wünscht, einen von uns zu sehen, dann erscheinen wir. Deshalb bin ich hier, du bist übrigens der erste, dem das gelungen ist.“

„Also bist du nur eine Erscheinung, so wie ein Traum?“, fragte Tim enttäuscht.

„Sehe ich etwa wie ein Geist aus?“, fragte der Drache ein bisschen beleidigt. „Ich bin natürlich echt, und du kannst mir glauben, es ist gar nicht einfach, aus einem so kleinen Ei zu schlüpfen. Wir Drachen beherrschen einige magische Tricks, und von einem unbeschreiblich weit entfernten Ort hier vor dir aus dem Ei zu schlüpfen ist einer der unserer Größten. Deshalb dürfen das auch nur die Erfahrensten und Besten von uns tun.

„Du bist also einer der besten Drachen?“

„So kann man sagen. Aber ich will mich erst einmal vorstellen: Mein Name ist Magelo von Felsenstein. Ich bin gekommen um dir die Heimat der Drachen zu zeigen. Möchtest du mit mir einen kleinen Ausflug machen?“

„Na klar!“

Das kam ohne Zögern. Doch dann viel Tim seine Mutter ein, wie sie ihn am nächsten Morgen suchen würde. Sie würde sich sicher sorgen, Mütter tun das ständig.

Magelo von Felsenstein bemerkte sein nachdenkliches Gesicht.

„Ist es wegen deiner Familie?“

Tim nickte.

„Mach dir deshalb keine Sorgen, bis morgen früh liegst du längst wieder in deinem Bett.“

„Aber, ich denke deine Heimat ist so weit, und…“

„Ich sagte doch, wir Drachen beherrschen ein wenig Magie, ein bisschen die Zeit anhalten ist doch nicht schwer.

„Die Zeit anhalten?“ fragte Tim zweifelnd.

„Ich zeig's dir.“

Magelo schnaubte ein paar Funken gegen Tims Funkwecker. Augenblicklich hörte er auf zu blinken, und die Zahlen standen als wären sie eingefroren.

„He, mach den nicht kaputt, der ist noch neu!“ rief Tim erschrocken.

Der Drache lachte. „Der ist nicht kaputt, der steht wie die Zeit überall, nur für uns läuft sie weiter.“

Tim sah ihn fragend an. Magelo öffnete seine Tür. „Sieh selbst, schau auf die Uhren.“

Tim schlich sich mit seiner Taschenlampe in der Hand hinaus. Seine Eltern und seine Schwester schliefen und sämtliche Uhren waren stehen geblieben.

Er kehrte in sein Zimmer zurück.

„Na, wollen wir jetzt los? Die Zeit geht erst weiter, wenn du wieder zurück bist. Solange schlafen alle ohne etwas zu merken.“

„Ehrlich?“

„Wenn ich’s dir sage!“

Da gab es für Tim kein Halten mehr. Er zog sich schnell eine Hose und einen Pullover an, schließlich wollte er nicht im Schlafanzug bei den Drachen auftauchen. Dann öffnete er die Haustür. Magelo zwängte sich hindurch und Tim stieg auf seinen Rücken.

„Du solltest dich anschnallen“, sagte der Drache und zog von irgendwoher eine lange Liane, wie sie im Urwald wachsen. Tim band die Liane erst um den Drachenbauch und dann um sich selbst und knotete sie fest.

Der Drache erhob sich ganz langsam in den Nachhimmel, die kleinen Flügel flatterten emsig und es ruckelte und zuckelte ein wenig.

„Entschuldige, meine Flügel haben noch nicht ganz die richtige Größe, aber gleich wird es besser gehen.“

 

Tim überlegte gerade, wie lange sie bei dieser Geschwindigkeit wohl brauchen würden, als es einen starken Ruck gab. Jetzt wusste er, wieso er sich anschnallen sollte, denn plötzlich drehte sich alles um ihn, und er sah die Sterne immer näher rückten. Er hatte das Gefühl in einer gigantischen Achterbahn mit Dreifachlooping zu sitzen. Um ihn herum blinkte und blitzte es, und als ihm gerade etwas übel wurde, gab es wieder einen Ruck. Der Drache flog jetzt mit großen kräftigen Schwingen ganz friedlich, über eine im Sonnenlicht schimmernde Blumenwiese.

 

 

DIE ANDERE WELT
 

Tim rieb sich die Augen. Eben war noch tiefste Nacht gewesen, und jetzt schien die Sonne. Das war sicher wieder Drachenmagie, langsam begann er zu begreifen, dass die Dinge hier nichts mit dem zu tun hatten, was man in der Schule lernte.

„Willkommen in meiner Heimat“, sagte Magelo fröhlich und setzte zu Landung an.

Als Tim von seinem Rücken stieg, stand er zwischen riesigen bunten Blüten. Sie reichten ihm bis ans Kinn und strömten einen wunderbaren Duft aus. Viele bunte Schmetterlinge tummelten sich darauf. Sie waren größer, als die Schmetterlinge die Tim kannte. Ein besonders schöner roter  landet direkt vor seiner Nase, und wäre Tim nicht schon vorher sprachlos gewesen, wäre er es sicher jetzt.

Magelo lacht über sein verdutztes Gesicht und sagte: „Das sind Blumenelfen. Bei uns verstecken sich die Elfen nicht bei Tag, denn sie lieben den Sonnenschein und niemand hier jagt sie.“

Tim starrt die kleine Elfe auf der Blume an und die Elfe starrt zurück. Dann lächelt sie und sagt mit hohem Stimmchen „Guten Tag junger Herr“.

„Guguten Ttag“, stottert Tim.

„Hallo Azura“, sagte der Drache. Und, seid ihr oder einer der Drachen schon durchgedrungen?“

„Nein, leider nicht, sobald wir uns nähern, werden unsere Flügel steif und kalt und wir stürzen ab. Den Drachen geht’s genauso.“

„Hm, dann ist der Junge unsere letzte Hoffnung“, murmelte der Drache, und machte ein nachdenkliches Gesicht.

Tim sah die Beiden fragend an. Er hatte den Ernst in ihren Gesichtern bemerkt.

„Gut, es wird Zeit, dass du es erfährst“, begann der Drache. „Es war kein Zufall, dass du das Drachenei gefunden hast, denn wir brauchen deine Hilfe.“

Tim starrte ihn verwundert an und fragte ungläubig: „Meine Hilfe? Ein Zauberdrachen braucht meine Hilfe? Ich kann nicht zaubern, nicht fliegen, bin nicht besonders stark und nicht mal gut in der Schule. Wie kann ich dir denn helfen?“

„Ich werde es dir erklären, setz dich, denn es ist eine lange Geschichte.“

Tim nahm zwischen den duftenden Blüten Platz und der Drache begann zu erzählen:

„Es gibt einen dunklen Fleck, einen Makel in unserer sonst perfekten Welt. Als wir vor vielen Jahren hierher zogen, war er so klein, dass wir ihn nicht beachteten. Zwischen einigen abgestorbenen Bäumen stand eine schwarze Hütte. Die Elfen, die schon immer hier leben, kannten die Hütte. Sie mieden diesen Platz, und rieten auch uns, das auch zu tun.  

So blieb unbemerkt, das aus der kleinen Hütte eines Tages eine dunkle Burg wurde, und aus wenigen abgestorbenen Bäumen ein toter Wald. Erst gestern bemerkten wir diese Tragödie.

Denn gestern passierte etwas Außergewöhnliches. Aus der Burg erklang Gesang. Eine zarte Stimme sang ein trauriges Lied, das wie auf unsichtbaren Flügeln über Wiesen und Wälder getragen wurde. Drachen und Elfen flogen herbei, um zu sehen, wer da sang. Doch kaum flogen sie über den abgestorbenen Wald, erfasste sie eine grausige Kälte. Flügel und Gliedmaßen gefroren, und sie drohten abzustürzen. Nur Azura flog weiter und erreichte den Burgturm.“

„Oh ja, dass habe ich, auch wenn es furchtbar kalt war“, zwitscherte die Elfe stolz.

„Ich sah am vergitterten Fenster ein Mädchen stehen. Sie war gefangen, und während sie sang kullerten ihr Tränen über die Wangen. Ich flog ganz nah heran, und als sie mich erblickte, lächelte sie. Ich war schon fast erfroren, doch als ich das Lächeln sah, wurde mir ein bisschen wärmer. Ich versprach ihr, Hilfe zu holen und schaffte es mit letzter Kraft davon zu fliegen.

Das Mädchen sah übrigens nicht so aus, als ob es frieren würde. Es war nur sehr traurig.

Kurz danach wurde Magelo von dir in die Menschenwelt gerufen. Das kann kein Zufall sein. Ich bin ganz sicher, dass du dieses Mädchen retten kannst, denn es ist ein Mensch, genau wie du. Und vielleicht verschwindet dann auch diese schreckliche Burg und der Wald wird wieder gesund.“

 

„Ich soll also zur schwarzen Burg, das Mädchen befreien?“, fragte Tim zögernd, aber auch ein wenig stolz, dass man ihm eine solche Heldentat zutraute.

„Du musst das nicht tun“, antwortete der Drache.

„Aber was passiert, wenn ich es nicht tue?“

„Ich glaube, das Mädchen kann nur von einem Menschen befreit werden. Du bist der erste Mensch, der den Weg zu uns gefunden hat. Das ist etwas ganz besonderes. Nur wenige Menschen erkennen ein Drachenei und noch weniger suchen danach. Deshalb bist du vielleicht der Einzigste der ihr helfen kann. Möglicherweise gibt es auch einen anderen Weg. Aber seit gestern scheint die Burg wie von Geisterhand zu wachsen und immer mehr Wald stirbt ab. Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir noch haben.“   

Tim holte tief Luft. „Gut, ich werde es versuchen.“

„Juchhu“, rief die kleine Elfe. „Ich wusste, dass du es tust.“

„Habt ihr schon jemanden in der Burg oder im Wald gesehen?“, fragte Tim, der vor seinem eigenen Mut jetzt etwas Angst bekam.

Magelo schüttelte den Kopf.

„Nein, aus der Burg ist bisher niemand heraus gekommen, und der Wald ist tot und leer.“

„Aber irgendjemand muss doch das Mädchen gefangen haben.“

„Tut mit leid, ich habe niemanden gesehen“, trillerte die Blumenelfe.

Magelo lächelte Tim aufmunternd zu. „Komm, steig auf meinen Rücken, wir fliegen zum Wald.“

Tim kletterte hinauf, und sie erhoben sich in die Lüfte.

Azura flog gut gelaunt neben ihnen her und zwitscherte ein Liedchen: „Der Retter von der fernen Welt, er kam zu uns juchhee“.

 

 

DER SCHWARZE WALD
 

Unter ihnen lagen große Blumenwiesen, Seen und leuchtende Wälder. Tim schaute sich um, es war wunderschön, aber er konnte keinen einzigen anderen Drachen entdecken. Nur einige farbenfrohen Blumenelfen flatterten hier und da über die Blüten.

„Wo sind die anderen Drachen?“, fragte er Azura, die sich gerade vor ihn auf Magelos Rücken gesetzt hatte, weil ihr der Flug zu schnell ging.

„Sie erwarten dich“, zwitscherte die Elfe zurück.

Tim wusste nicht, was sie damit meinte, aber er fragte nicht weiter, da Magelo inzwischen so schnell flog, das es in den Ohren rauschte.

Nach ungefähr einer Stunde erschien der dunkle Wald in der Ferne. Schwarz und unheimlich hob er sich ab von dem leuchtenden Grün der Landschaft.

Als sie näher kamen, erkannte Tim, dass die Wiese vor dem Wald voller bunter Drachen war.

„Sie wollen dich begrüßen und dir Glück wünschen“, zwitscherte Azura. „Die Blumenelfen haben deine Ankunft überall verbreitet.“

Magelo landete auf einem Hügel vor dem Wald. Sie waren umgeben von Drachen und flatternden Elfen. Tim stieg von seinem Rücken. Er betrachtete die Drachen, die in respektvollen Abstand um ihn herum standen. Es gab sie in allen Farben des Regenbogens, und in dem hohen grünen Gras wirkten sie wie gigantische Riesenblüten. Ein wenig ähnelten sie alle Magelo, doch man konnte auch deutliche Unterschiede erkennen. Vor allem in der Größe. Ein Drachen, ganz in Tims Nähe, war mindestens so groß wie ein Elefant. Es gab eselsgroße Drachen und manche, die nicht größer waren als Kaninchen. Das waren sicher die Kinder. Soweit das Auge reichte standen sie um den Hügel. Es mussten tausende sein. Tim war beeindruckt, und ein wenig eingeschüchtert.

„Soll ich jetzt zu ihnen sprechen?“, wandte er sich unsicher an Magelo.

„Das brauchst du nicht, sie wollen dich nur sehen. Die jüngeren unter ihnen haben noch nie einen Menschen erblickt. Eigentlich mögen wir die Menschen, jedenfalls die kleinen. Und so einen mutigen Jungen hat hier noch niemand gesehen.

Tim sah zu den Drachen, machte so etwas wie eine kleine Verbeugung und sagte so laut, wie er in seiner Aufregung konnte:

„Ich werde jetzt zur Burg gehen und das gefangene Mädchen retten.“

Mehr musste er nicht sagen, denn ein großer Jubel brach los. Die Drachen riefen mit ihren brummigen Stimmen „Hurra“, dazwischen ertönten das feine Zwitschern der Blumenelfen und die hohen Stimmen der Kinderdrachen.

 

„Jetzt muss ich wohl in den Wald.“, flüsterte Tim zu sich selbst. Seine Knie wurden ganz weich.

„Ich werde jetzt losgehen“, sagte er dann zu Magelo und Azura. Er konnte dabei ein Zittern in der Stimme nicht unterdrücken.

Der Wald lag schwarz und bedrohlich vor ihm. Weit hinten erhob sich dunkel der Burgturm über den Bäumen.

Er dachte an das Mädchen, das dort gefangen war und schluckte seine Furcht hinunter. Entschlossen und mit großen Schritten lief er auf die Bäume zu. Die Drachen bildeten eine Gasse, ihr  Jubeln drang jetzt nur noch gedämpft an sein Ohr. Viel lauter hörte er sein eigenes Herz schlagen. Er musste jetzt heldenhaft sein, auch wenn er sich wie ein ganz kleiner Junge fühlte.

 

„Warte!“, Magelo landete neben ihm. „Du musst doch nicht allein gehen, ich begleite dich.“